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En plus: Ein komplexes Paradies

Staatspreisträger Gerd Kühr im Interview mit Daniel Mayer.

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Der Große Österreichische Staatspreis wurde heuer an den Komponisten Gerd Kühr verliehen. Daniel Mayer hat mit ihm für das Webmagazin der ÖGZM ein Interview geführt.

Daniel Mayer: Lieber Gerd, herzliche Gratulation! Wie fühlt man sich als Träger des Großen Österreichischen Staatspreises?

Gerd Kühr: Die Verständigung über die Zuerkennung dieses Preises kam gänzlich unerwartet, hat mich überrascht und große Freude ausgelöst, so wie auch die zahlreichen Gratulationen, die mich in der Folge erreichten. Der Ehre, Staatspreisträger zu sein, bin ich mir bewusst.

Große Instrumentalbesetzungen und die Oper standen stets im Mittelpunkt Deines Schaffens, zuletzt 2021 „Paradiese“ in Leipzig. Was reizt Dich an der Kunstform des Musiktheaters so ganz besonders?

Das Vollständige, Ganzheitliche, die Begegnung der verschiedenen Kunstrichtungen, die Herausforderungen, auch jene des Kommunizierens, der unterschiedlichen Blickwinkel, des lebendigen Austausches, das weite Feld zwischen konträrer Diskussion und Einverständnis, Einig-Sein und, ja auch, bei der Umsetzung manches Mal Kompromisse in Erwägung ziehen zu müssen. Weiters der volle Einsatz der Phantasie, eine Art irdischer Grenzenlosigkeit im Kopf, das Ignorieren-Dürfen der Wirklichkeit, das Auf-den-Kopf-Stellen der Logik und und und … Soll ich weiter schwärmen?

Wie siehst Du die Rolle der österreichischen Staats- und Landesbühnen, insbesondere in Hinblick auf das zeitgenössische Schaffen? Wie beurteilst Du die Situation des Musiktheaters im nicht-deutschsprachigen Ausland?

Wohl auch aufgrund des großen Aufwands und der Subventionen steht Musiktheater unter dem Druck, täglich überzeugen, seinen Wert rechtfertigen zu müssen. Gerade hier im deutschsprachigen Raum können wir auf eine lange Traditionslinie zurückblicken, Theater und Oper ganz wesentlich mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Was die Rolle der Staats- und Landesbühnen betrifft, so bieten diese eher selten ein einheitliches Bild, hängt die Programmierung doch sehr von den jeweils Verantwortlichen der jeweiligen Institution ab. So auch von deren Verständnis von Zeitgenossentum. Manche beschränken sich darauf, sogenannte moderne Inszenierungen zu präsentieren und meinen, damit sei ihre kulturelle / kulturpolitische Aufgabe schon erfüllt. Dass dies eindeutig zu kurz gegriffen ist, darauf sollte m. E. immer wieder hingewiesen werden.

Offenbar fällt es uns immer schwerer, sich Zeit für gründliche Analysen zu schaffen, die zu – nicht nur – kulturpolitischen Konsequenzen führen.

Im nicht-deutschsprachigen Ausland wird die Tatsache schlagend, dass man dort nicht von einer so großen Dichte an Musiktheaterbühnen wie bei uns sprechen kann. Dort wäre es daher umso wichtiger, würden alle Verantwortlichen an einem Strang ziehen und das zeitgenössische Schaffen berücksichtigen, besser noch: konsequent fördern. Und da meine ich beileibe nicht bloß die finanzielle Seite, sondern ebenso die kulturpolitische. Das Publikum muss die Gelegenheit erhalten, sich damit auseinanderzusetzen, und das nicht nur einmal. Natürlich gilt das immer noch auch für uns, für den deutschsprachigen Raum. Denken wir an die vielen unterschiedlichen Musiksprachen und -stile. Ohne kontinuierliche Programmierung wird es keine nachhaltigen Ergebnisse geben, die imstande wären, das vielschichtige zeitgenössische Schaffen im Repertoire abzubilden, geschweige denn zu verankern. Die medialen Möglichkeiten stellen m. E. keinen ausreichenden Ersatz für das Live-Erlebnis dar. Der immer wieder kehrende Hinweis, das Publikum lehne zeitgenössisches Musiktheater ab, ist mir einfach zu billig, das Einlösen des Kulturauftrags ohne entsprechende Anstrengung und Einfallsreichtum zu simpel, gerade am Theater.

Von welchen Deiner Werke würdest Du Dir eine Wiederaufführung ganz besonders wünschen?

Die Frage bezieht sich auf das Musiktheater, vermute ich. Nun, da denke ich natürlich an meine zwei „große“ Opern, an „Tod und Teufel“ und „Paradiese“. Was den Konzertsaal betrifft, möchte ich vor allem zwei sehr konträre Werke nennen. Zum einen „Ordinarium Missae“ für Soli, Chor und Orchester, eine strenge Vertonung des Messtextes, die für eine konzertante Aufführung gedacht ist, zwar durchaus auch in einer Kirche, jedoch nicht im Rahmen einer Messfeier. Und zum anderen ein etwas verspieltes, in den beiden Klavierparts quasi choreographiertes Stück, da sich die beiden Ausführenden beim Dirigieren des Streichorchesters abwechseln – „Ricordarsi“ für Streichorchester und Klavier zu vier Händen. Eine dritte Komposition fällt mir noch ein, „Linie Punkt Fläche Raum“ für Orchester, in der ich verschiedene Arbeitsweisen in der Bildenden Kunst auf die Musik zu übertragen versuche. Die Anspielung auf Paul Klee im Titel kommt nicht von ungefähr.

Gerd Kühr | Foto: Walter Kober
Gerd Kühr | Foto: Walter Kober

Fraglos gab es seit 1968 – um als Eckdatum dieses prominente Jahr, zugleich Beginn des ORF musikprotokolls, zu nennen – große Veränderungen in Gesellschaft, Musikbetrieb und Ausbildung. Was hat sich am meisten verändert, verschlechtert, verbessert?

Die Komplexität in unserer Welt hat sich enorm gewandelt, ist dabei gewachsen, und die daraus resultierenden Veränderungen beschleunigen sich gefühlt immer rascher. Offenbar fällt es uns immer schwerer, sich Zeit für gründliche Analysen zu schaffen, die zu – nicht nur – kulturpolitischen Konsequenzen führen. Kein Teilbereich ist restlos abgekoppelt von unserer Lebenswirklichkeit, von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation unserer Gesellschaft. Natürlich auch nicht Kunst und Kultur – ebenso wenig Bildung und Ausbildung. In diesem weiten Sinn verstehe ich künstlerische Arbeit durchaus als politisch. Nach wie vor, so wie es in den sechziger und siebziger Jahren geradezu „normal“ war. Und mir scheint, dieser Aspekt kommt langsam auch wieder in der Musikwelt zurück.

Du blickst auf eine lange Unterrichtspraxis als Professor für Komposition zurück: sind die künstlerischen Impulse der jungen Generationen von einst und jetzt die gleichen?

Die Beobachtung der Entwicklung der künstlerischen Impulse der jüngeren Generationen macht in meinen Augen einen wesentlichen Teil aus, warum Lehrtätigkeit so reizvoll, herausfordernd, eminent wichtig und damit verantwortungsvoll ist. Gewiss können wir von unterschiedlichen Impulsen sprechen, müssen jedoch auch die jeweils individuelle Persönlichkeit und „Ausgangslage“ der jungen Komponistinnen und Komponisten in Betracht ziehen. Und so lande ich wieder einmal beim Begriff „komplex“ …

Was ist Dein Rat an junge Komponistinnen und Komponisten?

Wenn das nicht so schwierig wäre mit Ratschlägen! Gerne werden sie missverstanden bzw. als sicheres Rezept gesehen, vor allem, wenn es um Karriereplanung geht. Es entstehen rasch Erwartungshaltungen. Doch ist Differenzierung vonnöten und vor allem der Hinweis auf die Notwendigkeit einer individuell stimmigen künstlerischen Entwicklung und gleichzeitig einer unverzichtbaren handwerklichen Fertigkeit. Diese müssen im Vordergrund stehen, selbstverständlich sein bzw. werden.

Als interimistischer Vorstand des Instituts für Elektronische Musik und Akustik der KUG und durch die Verwendung von Live-Elektronik in eigenen Werken bist Du auch mit diesem Medium sehr vertraut. Wie beurteilst Du die Auswirkungen der digitalen Revolution auf den Musikbetrieb und die künstlerischen Ausdrucksformen?

Die interimistische Institutsleitung liegt schon wieder lange zurück. Um es übertrieben, jedoch durchaus richtig zu sagen, im letzten Jahrtausend. Mit dieser drastischen Formulierung will ich ausdrücken, dass das mittlerweile vergangene Vierteljahrhundert technisch so viel Neues gebracht hat, dass ich mir wohl beinahe wie ein Anfänger vorkäme, würde ich wieder ins Studio gehen und ein großes Werk in Angriff nehmen wollen.

Richtig ist, dass ich durch diese anregende, spannende und herausfordernde Tätigkeit etwas später imstande war, die „Revue instrumentale et électronique“, eine Raumkomposition für Instrumentalensemble und Zuspielungen (2004/05) zu schreiben und zwei Jahre später „Stop the Piano“ für Klavier und Zuspielung. Sowohl die interimistische Institutsleitung als auch die technische Konzeption und Umsetzung der beiden erwähnten Stücke sind undenkbar ohne das damals wie heute fabelhafte Team des Instituts.

Wir werden nicht umhinkommen, uns auf diesem einen Planeten als die eine Bevölkerung zu sehen und dementsprechend zu verhalten.

Die Auswirkungen der digitalen Revolution sind gewaltig, in jeglicher Hinsicht. Sie verändern im Grunde alles nachhaltig: Die kompositorische Arbeit selbst, das Verlagswesen, die Distributionsmöglichkeiten, die Aufführungsbedingungen, sie schaffen einen neuen Raum für die Wahrnehmung von Komponistinnen und Komponisten usw. Gleichzeitig kann man in dieser überdimensionierten Welt auch quasi verloren gehen. Alles ist in unruhiger Bewegung, scheint mir, wohin der Weg führt, erschließt sich mir (noch?) nicht. Trotz alledem glaube ich fest an die Unersetzbarkeit des Live-Erlebnisses.

Welche gesellschaftlichen Veränderungen bereiten Dir am meisten Sorge? Positiv und mit der Milde des mittleren Alters gesehen: wo wäre Entspannung angebracht?

Angesichts der derzeitigen schrecklichen kriegerischen Ereignisse fällt es mir schwer, positiv gestimmt zu bleiben. Wie sehr alles miteinander verwoben ist, weltweit, zeigt sich auch in den vielen Meinungsäußerungen, die uns überschwemmen, gefragt oder ungefragt. Einerseits verweisen sie auf eine (persönliche) Betroffenheit, ja auf Anteilnahme, andererseits beziehen sich viele Reaktionen auf ein vermehrtes Errichten von Mauern, im Kopf und/oder realiter. Es ist darüber schon so viel gesagt und geschrieben worden, trotzdem müssen wir uns die Frage stellen, ob wir als Menschheit wieder einmal etwas verschlafen haben. Wir werden nicht umhinkommen, uns auf diesem einen Planeten als die eine Bevölkerung zu sehen und dementsprechend zu verhalten. Es scheint so einfach und ist enorm komplex – schon wieder komme ich auf dieses eine Wort, das sich im Laufe des Interviews als dominant herausstellt. So schwanke ich zwischen Optimismus, den ich ja eigentlich vor mir hertragen möchte, und starken Zweifeln. Eines will ich keineswegs zulassen, dass Sarkasmus oder gar Zynismus überhandnehmen – jedenfalls nicht in mir.

Was sind Deine Pläne für zukünftige Projekte – sofern wir sie erfahren dürfen – und auf welchen Kontinenten möchtest Du in Zukunft die Natur erkunden?

Ein Klavierduo (zwei Klaviere), ein Streichquartett und mittelfristig ein Opernprojekt, das – bereits begonnen – gerade Pause macht. Ob das eine Pause wird, die die eine oder andere Reise ermöglicht?

Lieber Gerd, das wünschen wir Dir sehr – vielen Dank für das Gespräch!

Hörtipps:

Celebrating Gerd Kühr – Videomitschnitt des Konzerts mit dem Ensemble Zeitfluss vom 7. Oktober 2022 im Rahmen des ORF musikprotokolls mit Werken von Gerd Kühr:
AM ANFANG KEINE FANFARE (2022; Uraufführung)
Mundo Perdido (1992)
reihenweise (2008)
Stop and go and black and white (and sometimes blue) (1999/2000)
AM ENDE KEIN TRIUMPH (2022; Uraufführung)

2023 erschien die CD »Ins Offene – für Gerd Kühr« beim Label col legno. Auf der CD zu hören ist u.a. die Ersteinspielung von Gerd Kührs Klavierwerk »Praeludium – Acht Interludien – Postludium« und Werke von Kolleg:innen und Weggefährten des Komponisten.

Links:

Website von Gerd Kühr

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